Sollte mein Kind diesen Sommer eine Medikamentenpause einlegen?
Mit dem Beginn des Sommers und dem Wechsel der Schulroutinen fragen sich viele Eltern von Kindern mit ADHS, ob sie eine Pause von der Medikation einlegen sollten. Diese "Medikamentenferien", die oft an Wochenenden oder in den langen Schulferien stattfinden, werden meist aus Sorge um Nebenwirkungen in Betracht gezogen, insbesondere wegen der weit verbreiteten Annahme, dass Stimulanzien Appetit und Wachstum negativ beeinflussen.
Aber was sagen aktuelle Studien dazu? Und welche realen Konsequenzen hat es, die ADHS-Medikation in den Sommermonaten zu pausieren?
Der Wachstumsmythos ist endlich widerlegt
Einer der hartnäckigsten Mythen rund um Stimulanzien ist, dass sie das Wachstum langfristig beeinträchtigen. Zwar zeigen einige Kinder zu Beginn der Behandlung ein leicht verlangsamtes Wachstum, doch Langzeitstudien haben gezeigt, dass diese Veränderungen gering sind und sich im Laufe der Zeit nicht fortsetzen. Kinder, die ihre Medikation fortsetzen, holen das Wachstum in der Regel bis zur Pubertät wieder auf.
Eine wegweisende Studie, die mehrere Hundert Kinder über zehn Jahre begleitete, zeigte, dass das anfängliche Wachstumsdefizit im Durchschnitt weniger als 3 cm betrug und am Ende kein signifikanter Unterschied in der Endgröße zwischen behandelten und unbehandelten Kindern bestand. Diese Ergebnisse widerlegen deutlich die Vorstellung, eine Medikamentenpause sei notwendig, damit das Kind "normal" wächst.
Wichtig ist: Dieser geringe Wachstumsunterschied, besonders in den ersten Jahren, muss gegen die gut belegten Vorteile der Medikation abgewogen werden, darunter bessere Alltagsbewältigung, emotionale Stabilität und ein deutlich geringeres Unfallrisiko. Bei impulsivem Verhalten kann die Medikation sogar eine Schutzfunktion haben. Für viele Familien überwiegen die Vorteile in Bezug auf Sicherheit, Selbstkontrolle und Lebensqualität die leichten und meist vorübergehenden Auswirkungen auf das Wachstum deutlich.
Dennoch sollte das Wachstum stets im Rahmen eines verantwortungsvollen Behandlungsplans überwacht werden. Der behandelnde Arzt kann Größe und Gewicht regelmäßig kontrollieren und die Dosierung oder Strategie entsprechend anpassen. Eine Medikamentenpause sollte jedoch nicht die erste Maßnahme bei einem Wachstumsstopp sein, vor allem wenn das Medikament dem Kind sonst hilft.
Warum Familien trotzdem über Pausen nachdenken
Trotz der beruhigenden Studienlage denken viele Familien über eine Medikamentenpause in den Ferien nach. Manche hoffen, dass eine Pause den Appetit zurückbringt, den Schlaf verbessert oder dem Kind einfach eine Auszeit von der täglichen Einnahme bietet. Aber laut Dr. Max Wiznitzer, Kinderneurologe und ADHS-Experte, kann das kurzfristige Absetzen der Medikamente auch unerwünschte Folgen haben.
Eine vorübergehende Pause, um etwa eine Gewichtszunahme zu ermöglichen oder das Kind zu entlasten, sagt Dr. Wiznitzer, hilft nicht dabei, eine Toleranz gegenüber dem Medikament zu entwickeln.
Mit anderen Worten: Pausen koennen sogar verhindern, dass sich der Koerper des Kindes auf gesunde, nachhaltige Weise an die Medikation gewoehnt. Viele der Nebenwirkungen, die in den ersten Wochen auftreten – wie Appetitverlust oder Schlafprobleme – verschwinden oft, sobald sich der Koerper angepasst hat. Aber diese Anpassung benoetigt Konsistenz.
"Wenn man am Wochenende aufhört, fängt man am Montag wieder bei Null an", so Dr. Wiznitzer.
Der Koerper eines Menschen gewoehnt sich im Verlauf der ersten Monate an die Medikation, und Nebenwirkungen koennen sich dann abschwaechen oder ganz verschwinden. Wenn jedoch unter der Woche Medikamente genommen und am Wochenende pausiert wird, kann der Koerper keine ausreichende Toleranz entwickeln.
Der wahre Einfluss von Medikamentenpausen
Neben den koerperlichen Nebenwirkungen kann das Absetzen der Medikamente auch die emotionale und verhaltensbezogene Entwicklung unterbrechen, die viele Kinder im Laufe des Schuljahres machen. In Familien, mit denen ich arbeite, kommt es haeufig innerhalb weniger Tage zu einem Wiederauftreten von Reizbarkeit, emotionaler Instabilitaet und Impulsivitaet. Eltern beschreiben oft, dass sie sich wieder fuehlen, als wuerden sie auf Eierschalen laufen – nach Wochen oder Monaten ruhigerem, stabilerem Verhalten.
In einer aktuellen Studie zeigten Kinder, die im Sommer die ADHS-Medikation pausierten, einen Verlust an Fortschritten bei emotionaler Kontrolle und Planung – Faehigkeiten, die oft schwer erarbeitet sind und fuer den Alltag entscheidend. Zwar koennen sich Appetit und Schlaf ohne Medikation leicht verbessern, aber der Preis dafuer ist haeufig ein Wiederaufflammen von Konflikten und Frustration zu Hause.
Wann eine Pause riskant sein kann
Obwohl Medikamentenpausen harmlos erscheinen, sind sie nicht fuer alle Kinder geeignet – insbesondere nicht fuer diejenigen mit hyperaktiv-impulsivem oder kombiniertem ADHS-Typ. Diese Kinder zeigen meist intensivere Symptome, darunter Impulsivitaet, Risikoverhalten und Schwierigkeiten mit der emotionalen Regulation. Bei ihnen kann das Absetzen der Medikation sofortige und ernsthafte Folgen haben.
Kinder mit ausgepraegteren ADHS-Symptomen erleben haeufig eine Rueckkehr ihrer Herausforderungen, sobald die Medikation gestoppt wird. Bei impulsivem Verhalten steigt das Risiko unsicherer oder riskanter Handlungen. Ohne die Unterstuetzung durch Medikamente faellt es schwerer, innezuhalten, nachzudenken und sichere Entscheidungen zu treffen – besonders in unstrukturierten Zeiten wie im Sommer.
Und das ist nicht nur theoretisch. Studien zeigen klar, dass unbehandeltes oder unzureichend behandeltes ADHS das Risiko fuer Unfaelle und Verletzungen erheblich erhoeht:
Kinder mit ADHS muessen fast doppelt so haeufig wegen Verletzungen in die Notaufnahme wie neurotypische Gleichaltrige.
Besonders impulsive Kinder sind deutlich gefaehrdeter fuer Vergiftungen, Fahrradunfaelle, Stuerze und Verbrennungen.
Eine grosse schwedische Registerstudie zeigte, dass ADHS-Medikamente das Risiko schwerer Verletzungen bei Kindern um bis zu 31 Prozent und bei Erwachsenen um 58 Prozent senken.
Eine weitere Langzeitstudie berichtete, dass Kinder und Jugendliche mit unbehandeltem ADHS ein hoeheres Risiko fuer vorzeitigen Tod haben – haeufig durch impulsive Unfaelle wie Verkehrsunfaelle.
Diese Ergebnisse sind alarmierend und unterstreichen die Bedeutung einer kontinuierlichen Behandlung. Konstanz in der Therapie hat nichts mit Kontrolle zu tun, und schon gar nichts mit Bequemlichkeit – es geht um Sicherheit. Medikamente koennen entscheidend dazu beitragen, gefaehrliche Impulsivitaet zu senken, emotionale Stabilitaet zu unterstuetzen und einem Kind zu helfen, sich in seiner Umgebung sicher und fokussiert zu bewegen. Schuldgefuehle wegen der Medikation loszulassen ist wichtig – besonders wenn sie dazu beitraegt, dass das Kind sich sicherer und erfolgreicher durchs Leben bewegt.
Wann eine Pause sinnvoll sein kann
Auch wenn eine regelmaessige Behandlung fuer viele Kinder mit ADHS unverzichtbar ist, gibt es bestimmte Situationen, in denen eine sorgfaeltig geplante und eng begleitete Medikamentenpause sinnvoll sein kann.
Ein haeufiger Grund ist die Ueberpruefung, ob das Medikament in der aktuellen Dosierung noch erforderlich ist. Mit dem Wachstum, zunehmender Reife und dem Aufbau neuer Bewaeltigungsstrategien durch Therapie, Coaching oder Struktur veraendern sich oft auch die Unterstuetzungsbeduerfnisse. Eine Probezeit ohne Medikamente – unter aerztlicher Aufsicht – kann aufschlussreiche Informationen liefern.
Ein weiterer Punkt ist ein veraenderter Kontext. In den Sommerferien, im Urlaub oder bei Zeit zu Hause haben manche Kinder weniger aeussere Anforderungen. Wenn die Symptome relativ mild sind und keine Sicherheitsrisiken bestehen, kann eine kurze Pause Eltern helfen, zu beobachten, wie das Kind sich in einem weniger strukturierten Umfeld verhaelt. Dabei sollte nicht nur die schulische Leistung beurteilt werden, sondern auch Verhalten, Stimmung und Beziehungen – besonders im Umgang mit Freunden und Familie.
Eine Medikamentenpause kann auch hilfreich sein, wenn ein Wechsel in der Behandlung geplant ist. Zum Beispiel wenn ein Jugendlicher von einem Stimulans auf ein nicht-stimulierendes Mittel umgestellt wird oder kurz davor steht, seine Behandlung selbststaendig zu managen.
Schliesslich kann der Wunsch manchmal auch vom Kind selbst kommen. Es ist nicht ungewoehnlich, dass Kinder oder Jugendliche wissen moechten, wie sich das Leben ohne Medikation anfuehlt. Wenn diese Neugier von einem durchdachten Plan mit klaren Erwartungen, Verhaltensbeobachtungen und offener Kommunikation begleitet wird, kann sie ein wertvoller Schritt zu mehr Selbstverstaendnis und Eigenverantwortung sein.
In all diesen Faellen gilt: Zusammenarbeit, Struktur und Nachverfolgung sind entscheidend. Eine Medikamentenpause sollte niemals spontan oder nur aus Schuldgefühlen oder Aengsten heraus erfolgen. Wenn sie bewusst geplant wird, kann sie Familien neue Einblicke in die Beduerfnisse und Staerken des Kindes geben.
Also: Pause oder nicht?
Am Ende ist die Entscheidung, die Medikation im Sommer zu pausieren, eine sehr persönliche – sie sollte aber nicht auf Mythen oder Schuldgefühlen beruhen, sondern auf fundierten Informationen. Wenn Ihr Kind gut auf die Medikation anspricht, Nebenwirkungen verträgt und sozial-emotional profitiert, gibt es keinen zwingenden Grund, nur wegen der Ferien eine Pause einzulegen. ADHS macht keine Sommerpause – die Unterstützung sollte das auch nicht.
Wenn Sie unsicher sind, könnten diese nächsten Schritte hilfreich sein:
Vereinbaren Sie einen Kontrolltermin beim Arzt, bevor Sie Änderungen vornehmen.
Führen Sie ein Verhaltenstagebuch während einer geplanten Pause.
Sprechen Sie offen mit Ihrem Kind über seine Erfahrungen mit und ohne Medikation.
Ergänzen Sie die Behandlung durch Struktur, Bewegung, Zeit im Freien und Coaching.
Viele Familien ringen mit der Entscheidung über eine Sommerpause – das ist völlig verständlich. Eine Patentlösung gibt es nicht, doch mit guter Begleitung, ehrlicher Beobachtung und einem auf Ihr Kind abgestimmten Plan können Sie eine Entscheidung treffen, die Körper, Gehirn und Herz Ihres Kindes unterstützt.
Egal wie Sie sich entscheiden: Der Sommer ist eine wertvolle Gelegenheit, Ihr Kind ohne schulischen Druck zu beobachten. Das Verhalten, die Stimmung, der Appetit, der Schlaf und die Alltagsfähigkeit liefern wertvolle Hinweise – auch für den Arzt. Und denken Sie daran: Wenn sich zeigt, dass die Symptome das Wohlbefinden Ihres Kindes oder den Familienfrieden beeinträchtigen, ist es völlig in Ordnung, die Medikation früher als geplant wieder aufzunehmen. Flexibilität ist keine Niederlage – sondern Zeichen für aufmerksame, verantwortungsvolle Elternschaft.
Und denken Sie daran: Wenn die Symptome beginnen, das Wohlbefinden Ihres Kindes oder die Harmonie in Ihrem Zuhause zu stoeren, ist es voellig in Ordnung, frueher als geplant zur Medikation zurueckzukehren. Flexibilitaet ist kein Versagen – sie ist ein Zeichen von einfuelsamem und verantwortungsbewusstem Elternsein.
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Ich habe ein ausdruckbares Sommer-Medikamenten-Tagebuch mit Reflexionsjournal erstellt, das Sie bei diesem Prozess unterstuetzen soll.
Es enthaelt:
✔️ Taegliche Checklisten zur Medikamenteneinnahme
✔️ Protokolle zu Stimmung, Appetit und Verhalten
✔️ Woechentliche Uebersichtsseiten
✔️ Platz fuer Reflexionen und Notizen fuer Ihre behandelnde Fachkraft